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Chinas strahlende Zukunft

Während die Kernenergie im Westen stagniert, haben die Chinesen nach Fukushima ihre nukleare Produktion verfünffacht. Das ist erst der Anfang.

In China wurde der 30. Januar 2021 als historischer Tag gefeiert: Mit Hualong One ging in Fuqing erstmals ein modernes ziviles Atomkraftwerk ans Netz, das vollständig im Reich der Mitte entwickelt und hergestellt wurde. Der 1000-MWe-Druckwasserreaktor wurde in knapp fünf Jahren gebaut. Acht weitere Anlagen befinden sich im Bau. Auch der Export ist schon angerollt. Pakistan hat bereits fünf Hualong-One-Reaktoren geordert; mit der Türkei, Argentinien und Südafrika laufen Verhandlungen.
Die Bezeichnung «Eigenbau» mag aus westlicher Sicht etwas übertrieben sein. Hualong One weist grosse Ähnlichkeiten mit französischen, russischen und amerikanischen Kernkraftwerken der neusten Generation III+ auf. Das ist kein Zufall. Die Weltmarktführer Areva (Frankreich), Rosatom (Russland) und Westinghouse (USA) haben in China über ein Dutzend ihrer modernsten Kernkraftwerke gebaut. Das machen die Chinesen nun selber.

Kernschmelze praktisch ausgeschlossen
Der chinesische Staat, der sich immer als Partner Der chinesische Staat, der sich immer als Partner beteiligte, ging nach einem bewährten Muster vor: Das erste Werk liess er von den Fremden bauen, das zweite wurde in Lizenz erstellt, beim dritten führten Chinesen selbst die Regie. Bei der Entwicklung von Hualong One nahm man von jedem, was sich am besten bewährt hatte, änderte es leicht ab – und erklärte das Produkt zur Eigenentwicklung.
Hualong One ist in seiner Leistung und Bauart vergleichbar mit dem Schweizer KKW Gösgen, allerdings auf dem neusten Stand der Technik. Das betrifft vor allem die sogenannte passive Sicherheit: Schutzmechanismen, die bei einem schweren Störfall aufgrund von physikalischen Naturgesetzen ohne Einwirkung von aussen aktiv werden. Eine Kernschmelze, welche die Reaktoren von Fukushima Daiichi zerstörte, kann praktisch ausgeschlossen werden. Und selbst wenn es zum «grössten anzunehmenden Unfall» (GAU) käme, wäre ein Austritt von radioaktivem Material durch das Mehrfach-Containment an der Grenze des Unmöglichen.
Speziell ist sodann, dass Hualong One gemäss Eigenwerbung für einen «extremen Lastfolgebetrieb» ausgelegt ist. Das heisst: Anders als bei alten Bauarten kann die Leistung der Nachfrage angepasst werden. Fast unschlagbar ist der Preis. Zwar legen die Chinesen ihre Rechnungen nicht offen, doch die Fachwelt geht von 2,5 Milliarden Dollar für 1000 Megawatt Leistung aus. Das entspricht etwa einem Viertel von dem, was in Europa heute für den Neubau eines Kernkraftwerks gerechnet wird. Mit der Serienproduktion dürften diese Kosten sogar noch sinken.
Die Chinesen stiegen erst um die Jahrtausendwende im grösseren Stil in die zivile Nutzung der Kernenergie ein. Sie setzten dabei auf alle denkbaren Optionen, schnelle Brüter, modulare Kleinkraftwerke oder den kanadischen Candu-Schwerwasserreaktor inklusive. Richtig losgelegt haben sie allerdings erst vor zehn Jahren – also just zu dem Zeitpunkt, als nach der Kernschmelze von Fukushima die Atomprogramme weltweit ins Stocken gerieten und vereinzelte Länder wie die Schweiz und Deutschland sogar den Ausstieg aus der Kernenergie verkündeten.
Seit 2011 hat China die jährliche Atomstromproduktion von rund 7 auf 35 Terawattstunden (TWh) hochgepumpt. Das entspricht einer Verfünffachung in nur zehn Jahren. Noch deckt die Kernenergie in China bloss 5 Prozent des Strombedarfs. Doch bis 2035 soll die Produktion noch einmal vervierfacht werden. Und bis zum Jahr 2060 will die chinesische Regierung völlig aus der Kohle aussteigen, welche heute den Löwenanteil der Stromnachfrage deckt. Mit der Kernenergie allein wird man das kaum schaffen – doch ohne sie wird man es sicher nicht schaffen.
Anders als die Planspiele der westlichen Energiewender haben sich jene der Chinesen bislang bewährt. Und sie sind bezahlbar. China verschafft sich mit der günstigen, steuerbaren und praktisch CO2-freien Kernenergie einen enormen Wettbewerbsvorteil. Da der Brennstoffpreis bei Atomkraftwerken keine grosse Rolle spielt und Uran auch im eigenen Land gewonnen werden kann, wird China damit auch unabhängig von Öl- und Gasimporten und den volatilen Weltmarktpreisen.

Surreale Auflagen
Weltweit ist die Kernenergie nach wie vor im Vormarsch. Aufstrebende Industrienationen wie Indien und Pakistan haben ihre nukleare Kapazität seit Fukushima verdoppelt und treiben den Ausbau weiter voran. Sogar die Ukraine hat ihr Atomprogramm, unbeeindruckt von der Tschernobyl-Katastrophe, seit 1986 massiv ausgebaut und denkt nicht an einen Ausstieg. Noch steht Russland, das seine nukleare Produktion seit der Jahrtausendwende verdoppelt hat, in Bezug auf die Innovation an der Weltspitze. Insbesondere bezüglich der Brütertechnologie, welche die langlebigen strahlenden Abfälle aus der Welt schafft, aber auch bei mobilen Kleinreaktoren sind die Russen Weltmarkt-Leader.
Doch keines der erwähnten Länder hat eine Dynamik entwickelt, die mit der von China vergleichbar wäre. Das wird fassbar, wenn man China mit Europa vergleicht. Auch in Frankreich (Flamanville) und Finnland (Olkiluoto) wird seit über einem Jahrzehnt an einem modernen Kernreaktor der Generation III+ (European Pressurized Reactor, EPR) gewerkelt. In China wurden zwei Kraftwerke mit exakt diesem EPR-Reaktor, den die Europäer auf dem eigenen Territorium bis heute nicht in Betrieb nehmen konnten, 2018 fertiggestellt. Sie liefern seither zuverlässig praktisch CO2-freien Strom.
Das Problem liegt bei den surrealen Auflagen, welche den Bau eines Kernkraftwerks in Europa um Jahrzehnte verzögern und zu einem finanziellen Abenteuer gemacht haben. Illustrativ ist in dieser Hinsicht auch Japan, das zwar weiter an der Kernenergie festhält und auch neue Reaktoren baut. Nach der Kernschmelze von Fukushima wurden allerdings sämtliche Anlagen heruntergefahren und strengen Zertifizierungen unterzogen. 18 der 33 an sich funktionstüchtigen Reaktoren stehen aus diesem Grund zehn Jahre danach immer noch still.
Der Anteil der Kernenergie am Strom sank in Japan derweil von 30 auf 7 Prozent. Die Lücke wurde durch zusätzliche Importe von Kohle, Öl und Gas im Wert von jährlich 30 bis 50 Milliarden Dollar gefüllt. Die Kosten für die Brennstoffimporte überstiegen schon nach wenigen Jahren den ebenfalls gigantischen Schaden der Kernschmelze. Der Rückfall ins fossile Zeitalter ist aber nicht nur schlecht fürs Klima. Die Luftverschmutzung ist, nüchtern betrachtet, eine viel grössere Belastung für die Gesundheit der Bevölkerung als der nukleare Fallout von Fukushima, der gemäss der Uno-Strahlenschutzbehörde UNSCEAR keinen einzigen Menschen ernsthaft verletzt oder gar getötet hat.
Das chinesische Atomprogramm steht emblematisch für den atemberaubenden Aufstieg einer erfolgshungrigen Nation an die Weltspitze. So wie Tschernobyl die Selbstauflösung des morschen Sowjetregimes einläutete, könnte Fukushima zum Symbol des Untergangs westlicher Dominanz werden. Beide Nuklearkatastrophen förderten ein haarsträubendes Systemversagen zutage. In beiden Fällen waren die Schwächen der Anlagen hinlänglich bekannt. Die schwerfällige Bürokratie wusste um die Gefahren, doch sie war ausserstande, sie aus der Welt zu schaffen.
Wie in Tschernobyl hat die zu einem grossen Teil unnötige Evakuation der Bevölkerung auch in Fukushima mehr menschliches Leid verursacht als die Reaktorkatastrophe an sich und die damit verbundene Strahlung. Der materielle Schaden beider Katastrophen ging zwar in die Milliarden. Doch die gravierendsten Folgen für die Volkswirtschaft lassen sich nur schwer in Zahlen messen. Energie ist der Schlüssel zu jeder industriellen Entwicklung.
Fukushima versetzte Japan in eine Art Schockstarre. Die aufstrebende Weltmacht China sprang in diese Lücke. 2011 erwirtschafteten 120 Millionen Japaner noch fast dasselbe Bruttoinlandprodukt wie zwölfmal mehr Chinesen. Zehn Jahre später haben die Japaner über 10 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung eingebüsst, während die Chinesen diese mehr als verdoppelt haben. Den Rang als führende Industrie- und Exportnation Asiens hatte China seinem Nachbarn schon früher abgelaufen. Während China weiter davonzieht, kämpft Japan um die Wahrung des Erreichten.
Die Strahlenangst nach Fukushima hat das Prestige von Wind, Sonne und Biomasse als Energieträger in sagenhafte Sphären katapultiert. Kaum hatte sich die radioaktive Wolke über Japan verzogen, legte die deutsche Regierung sieben Kernkraftwerke sofort still und verfügte die Abschaltung der neun verbliebenen Meiler bis 2022. Spanien, Belgien und die Schweiz zogen mit weniger verbindlichen Absichtserklärungen nach. Sie sind allerdings eine kleine Minderheit. Dagegen stehen weltweit 41 Länder, die an der Option Kernenergie festhalten. Mit gutem Grund. Denn grünes Prestige mag der Seele guttun, doch Strom lässt sich damit nicht produzieren.
Trotz Subventionen von Wind und Sonne in dreistelliger Milliardenhöhe während der letzten zwanzig Jahre konnte Deutschland seinen CO2-Ausstoss nicht senken. Es liegt nicht am mangelnden Willen, sondern an den Gesetzen der Natur. Wind- und Solaranlagen verschlingen, gemessen am Ertrag, Unmengen an Ressourcen. Um ein einziges Kernkraftwerk der 1000-MWe-Kategorie zu ersetzen, müssten 2000 Riesenwindräder (Nabenhöhe 100 Meter) an bester Lage gebaut werden. Doch leider bläst der Wind selten dann, wann er sollte, und die Sonne foutiert sich erst recht um unsere Wünsche und Bedürfnisse. Ökologisch und ökonomisch auch nur halbwegs sinnvolle Langzeitspeicher in der gefragten Grössenordnung sind zudem weit und breit nicht in Sicht.
Erinnerungen an Hernán Cortés
Die unkontrollierbare Einspeisung des hochsubventionierten Flatterstroms von Wind und Sonne bedroht die Stabilität der Netze zusehends und lässt die Märkte verrücktspielen. Wenn die Witterung Wind- und Solargeneratoren zu Höchstleistungen treibt, stürzen die Preise ins Bodenlose; bei Hochnebel und Windstille machen die auf Volllast ächzenden Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke alle CO2-Einsparungen wieder zunichte. Als Alternative winkt der Blackout. Doch eine anhaltende Strommangellage wäre nach Berechnungen des Schweizer Katastrophenschutzes eine um ein Vielfaches grössere Bedrohung für die Bevölkerung als eine Kernschmelze oder etwa eine Pandemie.
Die alternativlose Energiewende erinnert an die Alles-oder-nichts-Strategie von Hernán Cortés, der 1519 seine Schiffe niederbrannte, bevor er mit 300 Desperados und verbündeten Indianervölkern die Azteken-Metropole Tenochtitlán stürmte. Im Fall eines Scheiterns war der eigene Untergang eingeplant. Die Chinesen halten sich derweil alle Optionen offen und nutzen die Gunst der Stunde, um die Führung bei der Kernenergie an sich zu reissen. Ein Klimaabkommen liegt zusehends auch in ihrem Interesse. Neben dem Wasser ist die Kernspaltung die einzige Stromquelle, die sich bislang als Alternative zu den fossilen Energieträgern im grossen Stil bewährt hat.

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